Traditionen sind zäh, das ist ihr Job: Beliebtes und Bewährtes bewahren, Orientierung im Alltag gewähren, dafür sind sie gut. Im Konzertbetrieb haben die Neujahrskonzerte nach dem Vorbild der Wiener Symphoniker — mit der Musik der Strauss-Dynastie im Mittelpunkt — eine jahrzehntelange Geschichte. Diese Tradition wird auch von den Lüneburger Symphonikern am Leben gehalten. Am Neujahrstag bot Orchesterchef Thomas Dorsch mit seinen Musikerinnen und Musikern alles, was so ein Konzert braucht: Walzer, Polka, Operette, Marsch und Galopp, einen gutgelaunten Moderator — und eine Sopranistin und einen Tenor, die mit herzerwärmenden Liedern zweitens ihren Partner und erstens das Publikums betören.
Natürlich waren Angela Davis und Karl Schneider ruckzuck die Lieblinge des Abends, zumal sie kurzfristig für erkrankte Kollegen eingesprungen waren und so den Abend in dieser Form gerettet hatten. „Meine Lippen, die küssen so heiß“, singt die temperamentvolle, aber leider mit einem ältlichen Langweiler verheiratete Giuditta, und ja, „Gern hab ich die Frau`n geküsst“, erinnert sich Paganini, der Schwerenöter, „hab nie gefragt, ob es gestattet ist“. „Giuditta“ und „Paganini“, Operetten von Franz Lehár, bildeten einen Schwerpunkt des Programms. Die Komponisten Lehár (1870-1948) und Emmerich Kálmán (1882-1953) waren die Stars jener Epoche, die heute als „Silberne Operettenära“ gilt und daher an solch einem Abend ihren Stammplatz haben.
Und die Goldene Ära? Johann Strauss natürlich, Vater und Sohn. Der Senior ist wohl zuallererst als Komponist des Radetzky-Marschs bekannt, ohne den ein Neujahrskonzert einfach nicht zu Ende gehen kann. Und der Junior, der Walzerkönig, schuf mit der „Fledermaus“ (eigentlich: „Die Rache der Fledermaus“) die bis heute populärste Operette überhaupt. Und so boten die gut aufgelegten Lüneburger Symphoniker im seit Langem ausverkauften großen Haus einen Reigen mitreißender Melodien, einen bunten Strauß mit Sträussen gewissermaßen. Mit dabei: „So elend und so treu“ aus dem „Zigeunerbaron“, der heute, so der Dirigent, eigentlich korrekt „Der Sinti-und-Roma-Baron“ heißen müsste.
Thomas Dorsch erledigte also nebenbei auch die Aufgabe des Conférenciers, plauderte und erläuterte. Und irgendwie ist es ja auch ganz nett, dem Orchesterchef, der sonst dem Publikum berufsbedingt immer nur den Rücken zukehrt, auch einmal ins Gesicht schauen zu können. Dorsch hatte im vergangenen Jahr Beethovens Neunte als Neujahrskonzert gewagt, „Tochter aus Elysium“ statt Gräfin Mariza also, und die Reaktion war, bei aller Anerkennung der musikalischen Leistung, wohl ambivalent.
Nun ist alles wieder gut. Für künftige Neujahrskonzerte hier noch schnell ein Blick auf die Strauss-Dynastie: Johann senior (1804-1849) hatte die Söhne Johann junior (1825-1899), Josef (1827-1870) und Eduard (1835-1916), alles erfolgreiche Komponisten und Kapellmeister. Nicht zum Clan gehörte übrigends Richard Strauss (1864-1949), ein Münchner.
Langer Applaus und viel Sympathie für die Solisten und Instrumentalisten, geklatscht wurde auch im abschließenden Radetzky-Marsch, und zwar erst „piano“, also leise, bei der Wiederholung des Themas dann „forte“ kräftig, auch das ist Tradition. Same procedure as every year.